Welches Unternehmensbewertungsverfahren ist das richtige - wer hat die Richtlinienhoheit?

von Frank Boos, Hans-Joachim Schlimpert und Rolf Schlünder

In der Praxis kommt immer häufiger die Diskussion auf, welches Bewertungsverfahren das richtige ist, bzw. wer die Richtlinienkompetenz bei der Wahl der Unternehmensbewertungsmethode besitzt. Der Berufsverband der Wirtschaftsprüfer (IDW), vertreten durch den Fachausschuss für Unternehmensbewertung und Betriebswirtschaft des IDW (FAUB), hat mit dem IDW Standard IDW S1 eine wirtschaftswissenschaftliche Grundlage zur Unternehmensbewertung entwickelt.

Das von Unternehmensbewertern und Sachverständigen für den freiberuflichen und mittelständigen Unternehmensbereich entwickelte modifizierte Ertragswertverfahren – welches für den inhabergeführten Unternehmensbereich seit 2011 ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist – wird seitens des IDW Standards hingegen nicht beachtet.

In der Entscheidung vom 21.02.2023 II ZB 12/21 hat der Bundesgerichtshof wiederholt ausgeführt, dass für die Unternehmensbewertung keine Bewertungsmethode vorgegeben ist.2 In der Rechtsprechung ist es entscheidend, dass die Bewertungsmethode und das innerhalb der Bewertungsmethode gewählte Berechnungsverfahren den gesetzlichen Bewertungszielen entspricht, in der Wissenschaft oder Betriebswirtschaftslehre anerkannt und in der Praxis gebräuchlich ist.3

Da jede Wertermittlung mit zahlreichen Prognosen, Schätzungen und methodischen Einzelentscheidungen verbunden ist, die jeweils nicht auf Richtigkeit, sondern nur auf Verwertbarkeit gerichtlich überprüfbar sind, kann keine Bewertungsmethode den Wert der Unternehmensbeteiligung exakt berechnen. Die Wahl der für die Schätzung im Einzelfall geeigneten Bewertung obliegt dem sachverständig beratenen Tatrichter.4

Die Frage nach der geeigneten Bewertungsmethode ist somit keine Rechtsfrage, sondern Teil der Tatsachenfeststellung und Beweisaufnahme und beurteilt sich nach der wirtschaftswissenschaftlichen oder betriebswirtschaftlichen Bewertungstheorie und -praxis.5 Dagegen ist es eine Rechtsfrage, ob eine vom Tatrichter gewählte Bewertungsmethode oder ein innerhalb der Bewertungsmethode gewähltes Berechnungsverfahren den gesetzlichen Bewertungszielen widerspricht.6

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Bewertungsmethoden keine Rechtsnormen sind und diesen auch nicht ähneln. Somit ist das Gericht an diese nicht gebunden. Erst recht gilt dies für die von der Wirtschaftswissenschaft oder der Wirtschaftsprüferpraxis entwickelten Berechnungsweisen, selbst wenn sie als Bewertungsstandards in der Empfehlung des Fachausschusses für Unternehmensbewertung und Betriebswirtschaft des IDW (FAUB) oder in den IDW Standards schriftlich festgehalten sind.Eine Methode scheidet nur aus, wenn sie aufgrund der Umstände des konkreten Falls nicht geeignet ist, den wahren Wert abzubilden.8

Somit gibt es für die Unternehmensbewertung kein Standardverfahren, das für alle Unternehmen verpflichtend zur Anwendung kommt. Vielmehr ist das Verfahren zu wählen, das dem wahren Wert am nächsten kommt.9 Die Entscheidung darüber, welche von mehreren rechtlich zulässigen Berechnungsweisen im konkreten Fall geeignet und sachgerecht sind, obliegt als Teil der Tatsachenfeststellung bzw. der Beweisaufnahme, wie oben bereits ausgeführt, dem sachverständig beratenen Tatrichter.10

Im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen, die inhabergeführt sind, hat sich das modifizierte Ertragswertverfahren nicht nur im Familienrecht durchgesetzt. So hat der BGH das modifizierte Ertragswertverfahren, das seit 1965 für freiberufliche Praxen entwickelt wurde und in etlichen Berufsgruppen als Standardverfahren Anwendung findet, für die Bewertung von freiberuflichen Unternehmen als das vorzugswürdige Bewertungsverfahren bezeichnet.11 In den Grundsatzentscheidungen des BGH wurden die dem Bewertungsverfahren zugrundeliegenden Regelungen entsprechend höchstrichterlich bestätigt.12

Im Jahr 2013 ergänzte der BGH seine Sichtweise zur Bewertung kleiner und mittlerer gewerbliche Unternehmen mit Inhaberbezogenheit mittels des modifizierten Ertragswertverfahrens.13 In der Entscheidung vom 08.11.2017 konkretisierte der BGH ergänzend seine vorangegangene Rechtsprechung dahingehend, dass die Ertragswertmethode und die notwendigen Modifikationen bei kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) nicht nur gebräuchlich, sondern auch als Rechtsnorm konform anzusehen sind. So führt der BGH aus, dass bei freiberuflichen Praxen und inhabergeführten Unternehmen die Bewertung grundsätzlich nicht nach dem reinen Ertragswertverfahren (IDW S1) erfolgen kann, sondern er hierfür die modifizierte Ertragswertmethode gebilligt hat.14 Im Jahr 2023 wurde durch OLG-Rechtsprechung die Anwendung des modifizierten Ertragswertverfahrens auch für gesellschaftsrechtliche Bewertungen gewerblicher Unternehmen bestätigt.15

Fazit

Es gibt in der Unternehmensbewertung somit nicht nur eine allgemeingültige Wahrheit. Es haben weder ein Berufsverband noch die wissenschaftliche Forschung die ausschließliche Richtlinienhoheit im rechtlichen Bereich über die Unternehmensbewertung. Dagegen obliegt dem sachverständig beratenen Tatrichter die Auswahl des im konkreten Einzelfall zu wählenden Bewertungsverfahrens. Für den Bereich der inhabergeführten freiberuflichen und gewerblichen KMU's hat dies der BGH mittels Verweis auf das modifizierte Ertragswertverfahren getan.

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IDW Standard: Besonderheiten bei der Unternehmensbewertung zur Bestimmung von Ansprüchen im Familien- und Erbrecht (IDW S 13), IDW Life 7/2016 S. 574 FF, TZ 10 in dem das modifizierte Ertragswertverfahren nicht als eigenständiges Bewertungsverfahren beschrieben wird.
BVerfGE 100,289,307 f.; BVerfG, ZIP 2011, 1051 Rn.23; ZIP 2012,1408 Rn.18, ZIP 2012, 165 Rn.19.
BGH Beschluss vom 15.09.2020 II ZB 6/20.
BGH Beschluss vom 29.09.2015 IIZB 23/14, BGH Z 207,114 Rn. 34.
BGH Urteil vom 13.3.1978 II ZR 142/76, WM 1978,4 101,405.
BGH Beschluss vom 29.9.2015 II ZB 23/14.
BGH, Beschluss vom 29.09.2015 II ZB 23/14, BGHZ 207,114 Rn.13,45, BGH Beschluss vom 21.02.2023 II ZB 12/21.
BVerfGE 100,289,307; BGH Beschluss vom 12.Jamuar 2016 – II ZB 25/14, BGHZ 208,265 Rn.22 f; Beschluss vom 15. September 2020 II ZB 6/20, BGHZ 227,137 Rn.20, BGH Beschluss vom 21.02.2023 II ZB 12/21.
BGH, Beschluss vom 29.09.2015 II ZB 23/14, BGH Beschluss vom 21.02.2023 II ZB 12/21.
10 BGH, Beschluss vom 29.09.2015 II ZB 23/14.
11 BGH 02.02.2011 XII ZR 195/08, NJW 2011, 2572 n.28; Boos, Bonefeld, Schlimpert, Schlünder, Siewert; Das modifizierte Ertragswertverfahren im Familien- Erb und Steuerrecht, Beck 2024, Seite 28 ff.
12 BGH 02.02.2011 XII ZR 195/08, NJW 2011, 2572 n.28; BGH 09.02.2011 XII ZR 40/09 NJE 2011,999.
13 BGH 06.11.2013 XII ZB 434/12, FamRZ 2014,98 Rn.37 zur Umsetzung siehe b.v.s Standard BW 1 06-2024 im DS 9/2024 S. 214 ff, Boos, Bonefeld, Schlimpert, Schlünder, Siewert; Das modifizierte Ertragswertverfahren im Familien- Erb und Steuerrecht, Beck 2024, Seite 15ff.
14 BGH 08.11.2017 XII ZR 108/16, NJW 2018,61 Rn.18.
15 KG Berlin vom 25.04.2023 14 U 45/21 in Boos, Bonefeld, Schlimpert, Schlünder, Siewert; Das modifizierte Ertragswertverfahren im Familien- Erb und Steuerrecht, Beck 2024, Seite 40.

 

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Über die Autoren:

Frank Boos - Diplom-Kaufmann, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für die Bewertung von Unternehmen und Praxen im Gesundheitswesen, Betriebsanalysen und Betriebsunterbrechungsschäden

Hans-Joachim Schlimpert - Diplom-Betriebswirt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für die Bewertung von kleinen und mittleren Unternehmen

Rolf Schlünder - Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Fachanwalt für Familienrecht