Wie die Enigma mit dem juristischen Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) zusammenhängt

KI im Rechtswesen
von Dr. Stefan Rinke

Die Enigma galt einst als die fähigste Dechiffriermaschine der Welt. Deren Entschlüsselung wurde lange Zeit für unmöglich gehalten; zu viel Komplexität und Variabilität wies das System auf. Ähnlich herausfordernd erscheint oft auch das Rechtswesen, was ausdifferenzierte Rahmenbedingungen zur Verfügung stellt und auf die ganze Bandbreite an Lebensvielfalt anzuwenden ist. Maßgeblich zur Entschlüsselung der Enigma beigetragen hat Alan Turing, der auch als einer der Vordenker von Künstlicher Intelligenz (KI) gilt. In seinem Grundlagenwerk „Computing Machinery and Intelligence“ von 1950 beschäftigt er sich mit der seinerzeit ebenfalls für unmöglich gehaltenen Frage: „Können Maschinen denken?“ (Oxford 1950, in deutscher Übersetzung bei Reclam 2021).

Imitationsspiel – KI als Abbild des Menschen?

„Wenn der Mensch versuchen sollte, so zu tun, als sei er die Maschine, würde er zweifellos einen miserablen Eindruck machen. Er würde sich sofort durch seine Langsamkeit und seine rechnerische Ungenauigkeit verraten“ (ebd. S. 12 [13]). In umgekehrten Rollen gedacht, entwickelte Turing die Anforderung für eine KI, dass „eine Maschine konstruiert werden kann, die das Imitationsspiel befriedigend zu spielen vermag“, also menschliches Verhalten imitieren kann (auch Turing-Test für KI bezeichnet). Das Problem für Maschinen sei es dabei, nicht die menschliche Gehirnleistung zu replizieren, insbesondere die Speicherkapazität des Gehirns nachzustellen oder dessen Arbeitsgeschwindigkeit: „Teile moderner Maschinen, die als Analoga von Nervenzellen angesehen werden können, arbeiten etwa tausendmal schneller als letztere“. (ebd. S. 86 [87], wohlgemerkt im Jahre 1950).

Die lernfähige „Kind-Maschine“ – KI im stetigen Ausbildungsprozess

„Bei dem Versuch, den Geist eines erwachsenen Menschen nachzuahmen, müssen wir uns eingehend über den Prozess Gedanken machen, der zu seinem gegenwärtigen Zustand geführt hat. […] Warum versuchen wir nicht, ein Programm zu erstellen, das nicht den Geist eines Erwachsenen, sondern den eines Kindes simuliert?“ (ebd. S. 88 [89]). In der Konsequenz besteht eine KI aus einer „Kind-Maschine“ und einer Lernumgebung. Damit der „Ausbildungsprozess zügiger verläuft als die Evolution“, begleitet ein „Experimentator“ das Lernverhalten, bewertet und steuert es. Die Kind-Maschine ist demnach Voraussetzung für eine lernende Maschine und lässt damit maschinell denkende Prozesse entstehen. „Das steht deutlich im Gegensatz zu der üblichen Vorgehensweise, wenn man eine Maschine zum Rechnen benutzt.“ (ebd. S. 98 [99])

Maschine gegen Maschine – Enigma-Entschlüsselung durch maschinelles Lernsystem

Die Entschlüsselung der Enigma gelang Turing conditio sine qua non mit diesen Prinzipien: Unter damaligen Umständen waren Kryptographen, Linguisten und Mathematiker nicht in der Lage, den sich täglich ändernden Schlüssel der Enigma schnell genug zu entschlüsseln, um in Klarschrift mitzulesen. Die damals vorhandenen Mittel mussten sich weiterentwickeln, was Turing mit der Konstruktion einer Maschine tat. Im Zusammenhang mit den Besonderheiten der übermittelten Nachrichten gelang schließlich die Entschlüsselung. Das lernende System übertrug Turing auf Maschinen: „Die Ansicht, dass ‚die Maschine‘ nur das tun kann, wofür wir die entsprechenden Befehle kennen, erscheint angesichts dessen seltsam […] Wir dürfen hoffen, dass Maschinen letztlich auf allen rein intellektuellen Gebieten mit dem Menschen konkurrieren werden. Doch mit welchen Gebieten fangen wir an?“ (ebd. S. 101 ff.)

Anwendung auf juristische Texte – Neues Ausbildungskorpus für die KI

Das Rechtswesen erscheint dafür prädestiniert. Die Ausgangslage bilden Rechtstexte, die den rechtlichen Rahmen vorgeben. „Die Meinungen darüber, welche Komplexität für eine Kind-Maschine angemessen ist, mögen auseinander gehen“ (ebd. S. 94 [95]). So können vor allem Gerichtsentscheidungen und Auslegungsgrundsätze Teil des juristischen Ausbildungsprozesses sein. So verstanden, kann sich eine juristische Lernumgebung entwickeln, die in der Lage ist, Sachverhalte (anonymisiert) entgegenzunehmen und anhand des Erlernten dem Juristen gleich zu beurteilen.

Niemand ist unfehlbar – Auch KI lernt aus ihren Fehlern

Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Einordnung von vermeintlichen „Fehlern“, welche von der KI produziert werden: „Intelligentes Verhalten besteht wahrscheinlich im Abweichen von dem völlig disziplinierten Verhalten, das mit Rechenvorgängen einhergeht. […] Erlernte Prozesse führen nicht zu Ergebnissen, die hundertprozentig sicher sind.“ (ebd. S. 100 [101]). Das Lernen aus Fehlern hat gewissermaßen die Enigma entschlüsselt und sollte auch als Teil des juristischen Ausbildungsprozesses verstanden werden.

Mensch und Maschine im Diskurs – Wie KI das Verhalten von Juristen imitiert

Die als Sprachmodell zur Verfügung stehende KI „Chat-GTP“ muss und kann entsprechend dafür eingesetzt werden. Bereits Turings Grundlagenwerk sagte voraus: „Die Frage-Antwort-Methode scheint geeignet zu sein, fast jeden gewünschten Bereich menschlichen Verhaltes abzudecken“ (ebd. S. 12 [13]). So verstanden, mag die Juristerei auch noch so komplex wie die Enigma sein, ist eine juristisch angelernte KI in der Lage, wie ein Jurist zu agieren, was letztlich zum Gedanken des Imitationsspiel zurückführt.

In weiteren Beiträgen informieren wir Sie ausführlich über das Thema "KI": 

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Über den Autor:

Dr. Stefan Rinke
arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin und ist als Justiziar für einen Kanzleisoftwarehersteller tätig. Bereits vor dem Jurastudium belegte er Programmierkurse zur Kleinstroboterprogrammierung und Mensch-Computer-Interaktion, heute ist er auf Legal Tech und Law Tech spezialisiert.

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Dieser Beitrag erschien erstmals in der NJW 47/23.