IT-Lösungen für die Anwaltskanzlei – Berufssoftware oder Standardsoftware?

IT-Software Anwendung in der Kanzlei
von Chan-jo Jun

In den 90er Jahren war die sogenannte EDV-Ausstattung in der Kanzlei noch überschaubar: Die Anwaltssoftware verwaltete Adressen, bot eine Schnittstelle zu Microsoft Word, was wiederum mit analogen oder bereits digitalen Diktatstationen verbunden war. Zinsen, Gebühren und Fristen berechnete die Software, viel mehr brauchte keine Kanzlei. Von den derzeit 19 Anwälten in unserer Kanzlei haben nur noch die wenigsten die Anwaltssoftware überhaupt installiert. Stattdessen haben wir einen Mix von kommerziellen und angepassten Tools im Einsatz, von denen viele gar nicht für die Anwaltschaft entwickelt wurde. Ticketsysteme, Dokumentenmanagementsysteme, Kommunikationstools und KI-Anwendungen ergänzen oder verdrängen die spezialisierte Berufssoftware – jedenfalls in unserer auf IT ausgerichteten Kanzlei.

Generalsoftware bei Standardaufgaben – Lohnbuchhaltung, Banking, Mailclients

Bei jeder Standardaufgabe – sei es Archivierung von Mails, Kollisionskontrolle, Buchhaltung oder Abrechnung – stellt sich die Frage, ob man die Lösung der Anwaltssoftware wählt oder die branchenunabhängige Standardsoftware. Die Berufssoftware versucht, mit vorgefertigter Spezialisierung zu überzeugen, während eine ausgereifte Standardlösung möglicherweise so viele Funktionen und Flexibilität bietet, dass sie als Generalist trotzdem überzeugt. Leider muss man sich die Frage bei jeder Anwendung stellen. Vielleicht kann dieser Artikel helfen.

Zwar hat jeder Vorgang in einer Kanzlei einen beruflichen Bezug, aber der erfordert nicht unbedingt eine berufsspezifische Lösung. Ein E-Mail-Client muss nicht für Anwälte neu geschrieben werden, ebenso die Videokonferenzsysteme oder Cloud-Speicher. Die besonderen datenschutzrechtlichen Anforderungen, die den Einsatz mancher Produkte aus den Häusern Google und Microsoft erschwert, lassen sich auch mit europäischen Lösungen außerhalb der Berufswelt lösen.

Nachholbedarf bei spezialisierter Zeiterfassungs-Software

Anders könnte es beim Beispiel von Timesheets und Abrechnung sein. Als Wirtschaftskanzlei berechnen wir unsere Gebühren nach Zeit und nur selten nach Streitwerttabellen. Dabei benötigen wir unterschiedliche Stundensätze, je nach Mandanen- und Berufsgruppe, und zusätzlich einen Zugangsfaktor, da wir häufig nur einen Bruchteil der entstandenen Zeit auch tatsächlich in Rechnung stellen. Schon hier verlässt uns der Funktionsumfang der Anwaltssoftware, die hier den Einsatz des Taschenrechners verlangt. Dass die Ermittlung der Umsatzbeteiligungen nicht aus der Standardsoftware kommen, ergibt sich von selbst. Hierfür bietet der Markt aber auch keine andere Lösung, die sich ohne Programmieraufwand für unsere Bedürfnisse anpassen lässt. Das Ergebnis sind daher verknüpfte Excel-Tabellen oder die Anpassung einer Open-Source-Lösung, die auf Grundlage eines Webservers und einer SQL-Datenbank die Grundfunktionalität der Zeiterfassung anbietet.

Abwägungsfrage in der Finanzbuchhaltung

Für Finanzbuchhaltung von Anwälten nach der Einnahmen-Überschussberechnung gibt es zahlreiche und sehr brauchbare Standardlösungen. Für die Anwaltssoftware spricht dann jedoch die Verknüpfung zur Aktenverwaltung, wo offene Gebühren, Fremdgelder und Auslagen mandatsbezogen verbucht werden können. Man hätte die Finanzen aber auch komplett über eine Finanzsoftware abbilden können, denn am Ende gehen die Daten doch wieder per DATEV-Schnittstelle erst zum Steuerberater und dann zum Finanzamt. Das Rennen geht hier wegen der nötigen Schnittstellen unentschieden aus.

Integrierte Fremdsoftware für Schriftsatzanfertigung und Diktatmanagement

Schriftsatzerstellung war früher einmal die Schwerpunkttätigkeit in der Anwaltskanzlei. Unsere Anwaltssoftware hat sich zum Glück vor vielen Jahrzehnten von dem eigenen Texteditor verabschiedet und zumindest bestimmte Versionen von Microsoft Word integriert und nicht immer zum Vorteil modifiziert. Das automatische Einfügen von Adresse und Aktenzeichen ist vermutlich der Hauptanwendungsfall für die Berufssoftware. Die Steuerung der Fußschalter für die Übertragung der Diktate erfolgt durch eine Fremdsoftware und ist in Zeiten der Spracherkennung ohnehin ein Auslaufmodell. Spracherkennungssoftware kann ich für viel Geld zur Anwaltssoftware einbinden lassen oder ich kaufe die Lizenz direkt beim Hersteller und überlege mir selbst, wie die Diktatdatei vom Diktiergerät ins Netzwerk kopiert wird. Tatsächlich liegen jedoch die batteriebetriebenen Diktiergeräte meistens in der Schublade. Die Alltagskommunikation mit Mandanten erledigt der Anwalt direkt per E-Mail an der Tastatur oder diktiert über das Headset in die Spracherkennungssoftware. Rechtsanwaltsfachangestellte vermissen die Diktatverarbeitung nur selten.

Besseres Preis-Leistungs-Verhältnis bei Standardlösungen

Schon lange vor den Handakten verschwanden die Wiedervorlagezettel und Aktenstapel, die dem Anwalt gleich zu Beginn des Arbeitstages die Anstrengung vor Augen führte. Für eine Zeit lang übernahm die Anwaltssoftware Wiedervorlagen und Fristüberwachungen, bis wir auch da auf eine europäische Standardlösung umgestiegen sind, die cloudbasiert, DSGVO-konform und ohne Notwendigkeit von VPN-Verbindungen mehr Funktionalitäten bot. Die Zuordnung zu mehreren Sachbearbeitern und direkten Interaktion in den Teams war für arbeitsteilige Projekte in der Standardlösung mächtiger. Wie immer ist dabei die Standardlösung hinsichtlich der Lizenzkosten weit günstiger, denn pro Mitarbeiter möchten die Kanzleisoftwarehersteller erst vierstellige Kauflizenzgebühren und dann noch monatliche Pflegegebühren, die allein schon teurer sind als die meisten Standardtools.

Die Kommunikation im Team per Chat, Audio oder Videokonferenz läuft über die kostenlose Open-Source-Software Matrix auf einem eigenen Server. Das hätte man datenschutzkonform mit einigen Mühen vielleicht über ein Microsoft-Produkt realisieren können, aber für mehr laufende Kosten. Auch VPN-Lösungen oder der Datenaustausch mit Mandanten lassen sich auf Grundlage von Open-Source-Standarddiensten wie etwa Nextcloud heutzutage leicht realisieren, ohne dass man eine berufsspezifische Lösung buchen muss.

Über den Autor:

Chan-jo Jun
ist Inhaber der auf IT- und Wirtschaftsrecht ausgerichteten Kanzlei Jun Rechtsanwälte mit Sitz in Würzburg. Ein besonderer Fokus der Kanzlei liegt auf dem Einsatz Künstlicher Intelligenzen im Rechtswesen. Jun selbst ist auf Software-Lizenzrecht, insbesondere hinsichtlich Open-Source-Software, spezialisiert. Er engagiert sich juristisch und überwiegend ehrenamtlich gegen Hasskriminalität in den sozialen Netzwerken. Jun wurde zum stellvertretenden nichtberufsrichterlichen Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs gewählt.

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Der Beitrag ist erstmals in der NJW 25/23 erschienen.