Legal Tech und das Wunschtalent

von Dr. Simon Mamerow

Legal Tech sollte den Bewerbern ein bekannter Begriff sein. Die komplette Kriegsbemalung (zweimal neun Punkte in den beiden Staatsexamen) sollte erreicht sein. Die Kultur des Arbeitgebers sollte ein Begriff sein und natürlich wird eine gewisse Eloquenz vorausgesetzt. So oder ähnlich könnte man den Wunschzettel der juristischen Arbeitgeber zusammenfassen. Auf der anderen Seite stehen die Talente, jung und gut ausgebildet und manchmal etwas ratlos, wohin mit diesem Wissen und welche der vielen Möglichkeiten sie nutzen wollen.

Beginnen wir unsere Betrachtung mit einer heiligen Kuh, die zumindest bei Großkanzleien immer wieder angeführt wird – den zweimal neun Punkten, die gefordert sind für eine Karriereoption in den ehrwürdigen Häusern.

Für die Talente ist die gute Nachricht: Nur die wenigsten nehmen diese Grenze noch komplett ernst. So gut wie alle Top-Arbeitgeber sehen bei anderen Pluspunkten und keiner zu starken Abweichung nach unten durchaus Möglichkeiten, dieses Kriterium aufzuweichen und sich mit dem Bewerber zu befassen. Auf Seiten der Arbeitgeber macht dies das Recruiting natürlich ungleich schwieriger.

Konnte man früher nach Notlage vorsortieren, ist dies heute nicht mehr ohne Weiteres möglich und die kulturelle Passung tritt in den Mittelpunkt. Dies spielt insbesondere eine große Rolle durch ein neues Schreckgespenst, welches früher eher unbekannt war: die Fluktuation.

Das Kunststück: Gute Mitarbeiter an sich zu binden

Eigentlich war die Kanzleiwelt immer eine Welt des »hire or fire«. Nun stellt sich jedoch die Frage, wie man die mit viel Aufwand rekrutierten Talente nach erfolgter Einarbeitung auch bei sich hält. Die zeitlichen Investitionen und der Aufwand sind oft wesentlich und in der juristischen Welt gibt es nun einmal nur das Personal, welches den Unterschied macht.

Die Räume sind austauschbar, die Kaffeemaschinen bestückt, die Hardware geschmackvoll, aber sicherlich nicht schlachtentscheidend. Und in den einzig kritischen Punkt zu investieren und ihn dann zu verlieren, wenn er produktiv zu werden beginnt, ist sehr unangenehm. Erschwerend kommt hinzu, dass die gut informierten Talente sich dieser Sachlage bewusst sind. In der Gesamtschau haben wir also ein schwieriges Feld vor uns.

In jüngerer Vergangenheit haben einige sehr namhafte Kanzleien einen weiteren, früher unvorstellbaren Schritt gewagt und Wirtschaftsjuristen eingestellt. Teilweise funktionierte dies recht gut, denn vor Gericht im Prozess muss nun beileibe nicht jeder Jurist in Erscheinung treten und die lukrativen Mandate sind oft wirtschaftsjuristischer Natur.

Einem Rainmaker zu erklären, dass man ihm sehr für die Verdienste verbunden sei, aber eine Partnerschaft nur für Volljuristen in Frage kommen würde, ist nicht gerade motivationsfördernd.

Es ist also zu konstatieren: Die Personalentwicklung und das Recruiting in den juristischen Abteilungen und den Kanzleien haben es aktuell nicht eben leicht. Vor diesem Hintergrund baut sich noch eine weitere das Geschäftsmodell bedrohende Kulisse auf – Legal Tech.

Legal Tech – was genau ist das eigentlich?

Zuerst müssen wir den Begriff kurz entwickeln, um danach die Situation zu beurteilen. Wir sehen einerseits Anwendungen, die das Leben eines Anwalts vereinfachen. Es handelt sich um Dokumentenverwaltung, Kanzleimanagement und Recherche. Hiermit ist die eigentliche juristische Tätigkeit kaum betroffen oder massiv unterstützt. Dieser Punkt kann einem Arbeitgeber eigentlich nur recht sein.

In einer zweiten Ausprägung geht es um Plattformen, die – ähnlich wie Social Media – der Vernetzung dienen. Dies ist auf den ersten Blick weniger problematisch, birgt aber bereits die Möglichkeit, eine breite Bekanntheit mit Kommunikationsmitteln aufzubauen und entsprechend Mandate zu generieren.

Die dritte Eigenschaft ist es, Technologien zu entwickeln, welche die Arbeit von Juristen automatisiert. Dies kann problematisch sein. Nun lässt sich sehr schnell anführen, es wäre unproblematisch, da ein guter Jurist nicht ohne Weiteres durch eine Software zu ersetzen sei. Dies ist auch ganz richtig und dennoch problematisch. Die Schwierigkeit liegt darin, dass dem Nachwuchs auf diesem Wege die Möglichkeit fehlt, sich durch relativ einfache Fälle in die komplexen einzuarbeiten.

Früher war es notwendig, zu Beginn einer Karriere die wenig aufregenden Fälle zu bearbeiten, für die die erfahrenen Kollegen nicht die Zeit und, offen gesagt, oftmals auch nicht die Lust hatten. Diese Fälle werden jedoch mehr und mehr automatisiert. Dies wird teilweise auch direkt durch Online-Rechtsdienstleistungen vorgenommen, die scheinbar einfache Fragestellungen schnell auflösen. Diese Fälle waren aber genau die Eingangsfälle des Nachwuchses, an denen Routine erlernt werden konnte, um an die komplexen Gemengelagen herangeführt zu werden. Je besser Legal Tech wird, umso weniger Routinearbeit gibt es.

Erhöhte Produktivität schafft neue Regeln

Dies führt zu einem sehr hohen Anspruch des Nachwuchses an den Arbeitgeber, aber auch umgekehrt. Bei Einstellungsgehältern von 100.000,- € Jahresgehalt bei den Großkanzleien, die von Spezialhäusern deutlich übertroffen werden, ist der Bedarf eines Return On Invest (ROI) gewaltig.

Natürlich müssen solche Gehälter durch Produktivität gedeckt werden. Wie kann eine so hohe Produktivität erreicht werden, wenn das Brot- und Buttergeschäft standardisiert wird und damit zunehmend an Lukrativität verliert?

Ihrerseits wollen die teuer eingekauften Talente gefordert werden und möglichst schnell an den Mandanten. In der Trendence-Studie unter Top-Nachwuchstalenten für den juristischen Bereich war einer der wichtigsten genannten Punkte früher Mandantenkontakt. Das Risiko, relativ früh neue Kollegen auf komplexe Mandate zu setzen, ist etwas, das neue Formen der Zusammenarbeit und des Miteinanders erfordert. Legal Tech ist nicht zuletzt natürlich auch eine Chance für ambitionierte Absolventen und Professionals.

Dabei greifen die meisten Legal Tech-Startups insbesondere in den Bereich des Wirtschafts- und Gesellschaftsrechts ein und spielen damit in einem der lukrativsten Segmente mit. Es gibt, kurz gefasst, drei Möglichkeiten, mit dem Phänomen umzugehen.

Erstens, man integriert es in die eigene Wertschöpfungskette und entledigt sich der Routinearbeit, um Prozesse zu verschlanken. Zweitens, man verlässt den Bereich, der hier abgedeckt werden kann und konzentriert sich auf die tatsächlich individuellen Bedürfnisse, wie es im M & A zum Beispiel meist der Fall ist. Drittens, man konzentriert sich auf die Chancen, die Legal Tech bietet und arbeitet sinnvolle Prozesse auf, die beinah endlos skalierbar und dann auch nicht mehr abhängig von der Anzahl der Mitarbeiter sind.

Wie auch immer man sich entscheidet, es muss konsequent geschehen – wer sich für nichts entscheidet, läuft Gefahr, eines der Opfer der Digitalisierung zu werden. Denn was durch Standardisierung stets Massenware wird, ist das Mittelmaß. Dies gilt für die Arbeitgeberseite, aber auch für die Seite der Bewerber.

Talente finden und Talent sein sind zwei Seiten einer Erfolgsgeschichte – ohne beide Seiten wird es keine Münze, mit der bezahlt werden kann.

Über den Autor:

Dr. Simon Mamerow
HR-Experte beim Trendence Institut und als Mitglied
der Ernst-Reuter-Gesellschaft in der Zukunftsforschung
der Freien Universität Berlin aktiv

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